Bildung sollte keine Einbahnstraße sein

Kenne beide Seiten der Medaille

11.07.2023

bitcoinde
Gregor Wedlich
Gregor Wedlich
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Inhaltsverzeichnis

    "Seit ich Bitcoin entdeckt habe, lese ich Bücher" - ein Satz den ich so oder so ähnlich, in den letzten Jahren immer häufiger in meinem Umfeld und auf Twitter lese und der mich zu tieferen Überlegungen anregt.

    An diesem Satz ist prinzipiell nichts auszusetzen und natürlich spielt der Kontext eine große Rolle. Man könnte argumentieren, dass das Entdecken neuer Wissensgebiete - sei es noch so spät - stets zu begrüßen ist. Dennoch bereitet mir diese Aussage ein gewisses Unbehagen. Seit 2013 vertiefe ich mich regelmäßig in Themen wie Politik, Ökonomie und natürlich Bitcoin. Und bis heute habe ich keine endgültige Meinung darüber, ob die von der Österreichischen Schule und von Menger propagierte Grenznutzenlehre wirklich die ultimative ökonomische Theorie darstellt, unter deren Prämissen Bitcoin gedeihen kann. Oder ob das nicht doch nur ein feuchter Traum von ein paar ziemlich Libertären Typen ist. Who cares...

    Wenn ich mich ausschließlich mit Literatur beschäftige, die unausweichlich die gleichen Narrative verfolgt, wie kann ich dann eine fundierte, umfassende Meinung entwickeln? Meiner Ansicht nach ist dies nur Menschen möglich, die sich bereits im Vorfeld entschieden haben, was sie glauben wollen und was nicht. Denn je mehr ich lese, je mehr Blogbeiträge, Podcasts und Videos ich konsumiere, desto stärker wird mir bewusst: Die Welt ist nicht schwarz und weiß. Um uns ein differenziertes Urteil zu erlauben, müssen wir allen Stimmen Gehör schenken und in Betracht ziehen, ob unsere Überzeugungen hin und wieder hinterfragt und neu bewertet werden müssen.

    Die nächsten zwei Artikel, wobei der zweite noch in Arbeit ist, setzen sich kritisch mit der "Bitcoin Community" auseinander - hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, richten sie sich an Bitcoiner:innen. Die Vielfalt in dieser Szene wird oft unterschätzt und viele plappern nur nach, was gut klingt. Genau das steht hier zur Debatte.

    Kenne beide Seiten der Medaille

    Es wird zunehmend herausfordernd für mich, ständig den Behauptungen von Bitcoiner:innen begegnen zu müssen. Diese vertreten unablässig die Meinung, dass eine frühzeitige finanzielle Bildung der Schlüssel dafür sei, die Notwendigkeit eines stabilen Wertspeichers zu verstehen. Darüber hinaus insistieren sie vehement darauf, dass Bitcoin als einzige geeignete Lösung für dieses Bedürfnis betrachtet werden sollte.

    Es wird vorgeschlagen, dass wir die Grundlagen unseres Geld- und Wirtschaftssystems bereits frühzeitig in den Schulen vermitteln sollten. Dies geschieht in der Erwartung, dass Kinder eigenständig zu dem Schluss kommen, Inflation sei schädlich und Deflation - insbesondere in Form von Bitcoin - die Rettung der Menschheit darstellt. Jedoch bin ich der Ansicht, dass die Realität nicht so schwarzweiß ist. Es erfüllt mich immer wieder mit Fragen, wie Bitcoiner:innen sich dieses Bildungsmodell konkret vorstellen. Sollen wir einfach jedes Kind mit dem "Bitcoin Standard" ausstatten und sagen: Lies dies und du wirst die Überlegenheit von Bitcoin erkennen? Oder sollten wir vielleicht zunächst sorgfältig in Erwägung ziehen, ob es nicht sinnvoller wäre, unsere Kinder und alle Menschen, die möglicherweise keine Fachkenntnisse haben, selbst über die Wahl zwischen einer deflationären oder inflationären Welt entscheiden zu lassen?

    Es fällt mir schwer, die Selbstzufriedenheit zu akzeptieren, die behauptet, wir könnten einfach alle Menschen aufklären, indem wir sie dazu anhalten, die "richtigen" Bücher zu lesen und den "richtigen" Stimmen Gehör zu schenken. Selbstverständlich bin ich davon überzeugt, dass Bildung essentiell ist. Gleichwohl ist es von ebenso großer Bedeutung, dass Bildung nicht zu einer Einbahnstraße wird. Wir benötigen kritisch und unabhängig denkende Menschen, um den zukünftigen Herausforderungen gewachsen zu sein. Daher ist es unabdingbar, dass wir Menschen ermutigen, beide Seiten der Medaille zu erkunden - und dies betrifft nicht nur Finanzen, sondern auch die allgemeine, soziale und ethische Bildung.

    Die Vorstellung, man könne lediglich die richtige "Orange Pill" (eine Anspielung auf die Matrix und übrigens auch fast ein eigener Artikel wert) zu sich nehmen, um eine Art finanzielle Erleuchtung zu erlangen, halte ich für mindestens diskussionswürdig. Was wir stattdessen anstreben sollten, ist eine offene, vielfältige Bildungslandschaft, welche den Menschen die Möglichkeit bietet, sich eine fundierte eigene Meinung zu bilden. Und das bedeutet zwangsläufig, sich über das Lesen von dem "Bitcoin Standard" oder anderen themenrelevanten Büchern hinaus zu informieren.

    Ich möchte nicht behaupten, dass wir keine finanzielle Bildung benötigen. Doch ich möchte betonen, dass niemand das Monopol auf Weisheit besitzt. Daher schlage ich vor, anstatt voreilige Urteile wie "Inflation ist schlecht, Deflation ist gut" zu fällen, erst einmal eine Vielzahl von Büchern und Quellen heranzuziehen und zu sehen, wo wir schlussendlich landen. Und das bedeutet auch, sich mit konträrer Literatur zu befassen, die sich eingehend mit der anderen Seite der Medaille auseinandersetzt.

    Es ist von größter Bedeutung zu betonen, dass niemand fälschlicherweise den Eindruck gewinnen sollte, ich würde die Bedeutung von Deflation nicht anerkennen. Im Zuge meiner Recherchen bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass wir aufgrund technologischer Fortschritte zunehmend in eine deflationäre Welt hineinsteuern. Angesichts dieser Veränderungen ist es durchaus möglich, dass ein deflationäres Zahlungsmittel in einer solchen deflationären Welt sich als die optimale Wahl erweisen könnte.

    Ich möchte diesen Artikel mit einem Zitat von Niels Bohr beenden.

    Aus dem Englischen:

    There are trivial truths and there are great truths. The opposite of a trivial truth is plainly false. The opposite of a great truth is also true.

    Frei übersetzt:

    Es gibt trivialer Weise zwei Arten von Wahrheiten: tiefe Wahrheiten, die von ihrem Gegenteil anerkannt werden, und oberflächliche Wahrheiten, deren Gegenteil unwahr ist.

    Dieses Zitat stammt aus "The Philosophical Writings of Niels Bohr, Volume 1: Atomic Theory and the Description of Nature". Es drückt für mich die Komplexität der Wahrheit aus und impliziert, dass es oft mehrere Perspektiven oder Interpretationen gibt.

    Literatur empfehlungen

    "Der Preis der Zukunft" in diesem Buch argumentiert Jeff Booth, dass technologischer Fortschritt zu einer unausweichlichen Deflation führt, was radikale Änderungen in unserer Wirtschaftsstruktur erfordert, um Wohlstand und soziale Stabilität zu sichern.

    In ihrem Buch "Dieses Mal ist alles anders: Acht Jahrhunderte Finanzkrisen" analysieren die Wirtschaftswissenschaftler:innen Carmen M. Reinhart und Kenneth S. Rogoff Finanzkrisen über einen Zeitraum von 800 Jahren und argumentieren, dass trotz technologischer oder institutioneller Fortschritte Finanzkrisen ein wiederkehrendes Phänomen sind, das durch exzessive Schuldenausweitung getrieben wird.

    In "Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" argumentiert John Maynard Keynes, dass bei unzureichender Nachfrage Arbeitslosigkeit auftreten kann und dass in solchen Zeiten staatliche Interventionen und Ausgaben notwendig sind, um die volle Beschäftigung und wirtschaftliche Stabilität zu fördern. Ich habe nie Ökonomie Studiert aber ich frage mich ob dieses Buch teil des Studiums ist?

    Und zu guter Letzt noch die bei Bitcoiner:innen verhasste MMT (Modern Monetary Theory) und einem Buch von Maurice Höfgen Mythos Geldknappheit: Modern Monetary Theory oder warum es am Geld nicht scheitern muss - ich finde, man sollte es zumindest einmal gelesen haben, um vielleicht besser argumentieren zu können, auch wenn der Autor so gerne alle Bitcoiner:innen so unangenehm polemisch über einen Kamm schert.

    Title Image Midjourney:

    1 A open book divided into two, with war raging on both sides

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